Barrio Mutter Herlinde

"Nur die Lösung der sozialen Misstände kann ein wirklicher Ansatz zur Gewährleistung des Friedens sein."

Mittlerweile verbessert sich die Situation im Barrio Madre Herlinde Moises für die ungefähr 300 Bewohner und Bewohnerinnen stetig: Die Holzhütten werden langsam durch stabile Ziegelhäuser ersetzt, eine wichtige Straßen wurde kürzlich sogar asphaltiert und Gasleitungen verlegt, sodass die Bewohnenden schon bald keine schweren Gasflaschen mehr schleppen müssen. Die Stromversorgung ist durch legale Leitungen gewährleistet, und die Regierung hat bereits einer Verbesserung der Wassersituation zugesagt: bis jetzt gibt es nämlich noch immer keinen legalen Anschluss an die Hauptwasserleitung, mehrmals wöchentlich muss ein Wassertankwagen kommen, der die Wassertonnen der Häuser auffüllt. Nach vielen Jahren des zähen Wartens, Hoffens und unzähligen Interventionen bei der Stadtverwaltung, ist nun endlich der Tag gekommen, an dem wir stolz verkünden können: Die Bewohner des Barrio Madre Herlinda bekommen einen legalen Zugang zur Wasserversorgung (siehe El Balsero)! 

Ein Einblick in die aktuelle Situation des Mutter Herlinde Moises Viertel

„Das haben wir damals alles selbst erreicht, ohne die Hilfe der Regierung. Mit Bingos und Verlosungen haben wir zusammen die Installation finanziert.“, teilt mir Dolores Maza Pájaro stolz mit, als sie mir vom Ausbau des Stomnetzes im Barrio erzählt. Sie ist eine der fünf provisorischen Vertreter des Viertels, die sich um die Anliegen der Bevölkerung kümmern.

Eigeninitiative und Solidarität waren von Anfang an die Grundpfeiler des Viertels. Menschen besetzten ein Stück Land, schlossen sich zusammen und verhielten sich solidarisch – unabhängige Besetzer wurden zu einer ganzen Bevölkerung. Dolores Maza Pájaro wohnt seit 12 Jahren im Viertel und hat die Anfangsschwierigkeiten in den Jahren 2007 und 2008 am eigenen Leib erfahren. Sie und 100 weitere Menschen haben damals der Ablehnung des Staates getrotzt und sich aus eigenen Kräften heraus gemeinsam aus ihrer prekären Lage befreit. Denn schnell war klar: Sie saßen alle im selben Boot. Alle waren bedürftig, wurden jedoch von städtischen Institutionen ihrem Schicksal überlassen. Mit Bürgerinitiativen und Unterstützung der Mutter Herlinde Moises Stiftung organisierten sich die Menschen. Die Bevölkerung begann sich als Gemeinschaft zu betrachten und mit Sozialarbeitern der Stiftung erreichten sie letztendlich auch die Legalisierung der Landbesetzung.

Auch den Lichtschalter kann man heute nur wegen der Solidarität und der Handlungsbereitschaft der Bevölkerung benutzen. Die Stromversorgung steht beispielhaft dafür, dass es im Mutter Herlinde Moises Viertel manchmal besser ist, Sachen selbst in die Hand zu nehmen, als auf Projekte von der Regierung zu warten. Genau deswegen haben die Einwohner 2010 im Viertel Bingos und Verlosungen veranstaltet. Von dem Gewinn der Aktion konnte die Installierung des Stromnetzes für die gesamte Gemeinschaft finanziert werden.

Eine, die das Gemeinschaftsgefühl im Viertel erhalten will, ist Señora Maza Pájaro. Zu ihr können immer alle kommen, sie hat stets ein offenes Ohr: „Was auch immer es ist oder sie beunruhigt, die Menschen kommen und klopfen an meiner Tür.“  Leider stellt sich das aber als eine immer schwieriger werdende Aufgabe heraus. Laut Maza Pájaro hat sich das Viertel seit 2014 stark verändert: „Früher ging es uns besser.“ fügt sie hinzu.

Auch das Viertel Mutter Herlinda Moises wurde von der Migration erreicht – innerhalb von Pasacaballos gibt es mehr Bewegung als früher. Während manche Menschen das Barrio verließen, zogen andere Einwohner aus umliegenden Vierteln wiederum zu. Menschengruppen bleiben nicht mehr isoliert unter sich. Das ist sehr förderlich für den Austausch innerhalb der Gesellschaft Pasacaballos. Auf der anderen Seite glich das Viertel bald nicht mehr der überschaubaren Landbesetzung, bei der sich jeder kannte und Familie war. Das Phänomen der Desplazados (dt. Vertriebene) hörte nach 2008 nicht einfach so auf – Kolumbien bleibt das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen weltweit – und es siedeln sich weiterhin Menschen von außerhalb, aus anderen Departamentos, an. Seit Beginn ist die Bevölkerung ums zeieinhalbfache gestiegen, sodass heute der Stellvertreterin Sra. Maza Pájaro zufolge 247 Personen in diesem Gebiet leben. Die Hinzugezogenen unterscheiden sich von den ursprünglichen Einwohnern des Barrios vor allem in einem Punkt: Sie haben die Landbesetzung, die Anfänge des Viertels und den späteren Legalisierungsprozesses nicht miterlebt. Durch all diese gemeinsamen Erlebnisse und Errungenschaften wurden die Menschen im Barrio jedoch erst zu einer richtigen Gemeinschaft – es schweißte sie zusammen. Mit dem Zuzug neuer Meschen fiel das weg und das hart erarbeitete Gemeinschaftsgefühl und die Solidarität hat einen geringeren Stellenwert als früher.

Das wirkt sich auch auf die Sicherheitslage aus. Es kommt häufiger zu Raub und Überfällen. Ein Teil der Menschen verdient seinen Lebensunterhalt in der Landwirtschaft oder der Fischerei. Die Mehrheit aber lebt von Eintags- und Aushilfsjobs. Das bedeutet „jeden Morgen aufstehen, zur Umhängetasche und Wasserflasche greifen und Arbeit auf der Mülldeponie oder dem Schrottplatz suchen.“, wie Sra. Mazua Pájaro es beschreibt. Meistens besteht diese darin, Eisen oder Kupfer zu sammeln. Laut Sra. Maza Pájaro gibt es Unternehmen in der Industriezone bei Pasacaballos, die freie Arbeitsplätze hätten, aber den Menschen aus dem Barrio diese nicht anbieten wollen. So kommt es, dass einige keine Alternative als das Stehlen mehr sehen, um sich und die Familie über Wasser zu halten. Täglich mit solchen Unsicherheiten konfrontiert zu sein, stellt leider vermehrt auch der Alkohol- oder Drogenkonsum einen Rückhalt da. Letzteres resultiert sich als eines der ansteigenden Probleme, vor allem unter Jugendlichen.

Einen Lichtblick hat das Jahr 2018 gebracht. Nach jahrelangem Kampf ohne Aussichten auf Veränderungen, hat das Mutter Herlinde Moises Viertel jetzt endlich einen legalen Wasseranschluss bekommen. Auch wenn es im Moment noch Schwierigkeiten gibt und das Trinkwasser nicht in die Wasserhähne der Häuser hochgepumpt wird, ist das ein bedeutender Schritt für die Bevölkerung. In vielen Häusern gibt es schon die benötigten Anschlüsse – sobald also die letzten Schwierigkeiten behoben sind heißt es: Wasser Marsch! Bis zu diesem Moment wird weiterhin alle 8 Tage ein Lastwagen Wasser liefern, um die Wassertonnen der Bewohner aufzufüllen. Ein weiteres erfreuliches Projekt ist die im Moment von statten gehende Verlegung der Gasleitungen. Derzeit sind die Menschen noch auf die schweren Gasflaschen angewiesen, doch das Schleppen wir bald ein Ende haben. In ferner Zukunft ist der Bau einer Kanalisation geplant.

Das sind viele Projekte in Zukunft für das Mutter Herlinda Moises Viertel. Hinter all diesen Entwicklungen stehen die Bewohner, die immer solidarisch zusammen halten und trotz Rückschläge nicht locker lassen. Nachdem der Staat die Bevölkerung fast ein Jahrzehnt lang sich selbst überlassen hat, scheint auch er endlich etwas in die Hand zu nehmen und seinen Verpflichtungen nachzugehen. In erster Linie bedeutet der Ausbau der Infrastruktur, dass den Menschen endlich ihre Rechte zugestanden werden. Darüberhinaus stellt dieser Fortschritt auch eine Chance da, um das Ansehen des Barrios aufzuwerten. Verschiedene Körperschaften unterstützen die Bewohner mit Projekten für Kinder, Patenschaften oder Unternehmen helfen auch beim Errichten von Häusern. Auch Sra. Maza Pájaro wurden Materialien zur Verfügung gestellt, so hat ihr z.B. die Ziegelei in Pasacaballos Steinblöcke gespendet. Natürlich ist an dieser Stelle auch die Mutter Herlinda Moises Stiftung zu erwähnen, die seit über 10 Jahren hinter den Einwohnern steht. Ein Projekt in dem Viertel ist beispielsweiße die Vorschule, deren Vision es ist, in einigen Jahren auch höhere Klassen zu beherbergen.

Geschichte

Alleine Pascaballos ist schon der ärmste Bezirk Cartagenas. Hierhin kommen die Vertriebenen, die Geflüchteten, die Armen, die, die gar nichts haben. Und womit soll man sich dann ein Grundstück kaufen, um sich ein Heim zu schaffen, einen Ort zum Schlafen, zum Duschen, zum Wohnen? Hier beginnt die Geschichte einer Landbesetzung verschiedenster Menschen, denen nichts anderes übrig blieb, als gemeinsam für ihr Leben zu kämpfen.

Seit Anfang 2007

Um sich eine Existenz zu schaffen, besetzen einige Menschen einen Landstrich vor Cartagena. Sie bauen sich einfache Hütten aus Holz, Blech, und Plastikfolien.

August/September 2007

In der Regenzeit entwickelt sich ein Hochwasser im besetzten Gebiet. Die Stiftung (damals noch Funscri) führt erste Hilfsaktionen durch und bietet neben medizinischer Versorgung auch Lebensmittel.

Oktober 2007

Die Stiftung geht auf die Notlage im besetzten Gebiet ein. Sie führt erste Gespräche mit seinen Einwohnern und seinem Vorstand und bietet an, die Menschen bei ihrer Arbeit zur Verbesserung der Lebenssituation zu unterstützen. Unter anderem werden die Wünsche und Bedürfnisse der Einwohner besprochen, die Namensänderung des Gebietes in „Barrion Madre Herlinda Moises“, sowie die Bereitstellung eines Gemeindegrundstücks für gemeinnützige Zwecke wie Sportplatz, Schule Kirch, Dorfplatz etc.

November 2007

Der angebliche Landbesitzer droht erstmals mit einer Räumung des Gebietes.

Dezember 2007

Eine erste große Säuberungs- und Aufräumaktion des Barrios mit anschließendem Eintopfessen findet statt. Dabei entsteht ein Streit mit dem engagierten Anwalt, der die Einwohner bei ihren Bemühungen zur Legalisierung des Gebiets juristisch unterstützen sollte.

Außerdem besucht die Stiftung die Besetzenden weiterhin regelmäßig und führt Gespräche über den baldigen Abschluss der Landsäuberung und die Vermessung des Gemeindegrundstücks.

Jänner 2008

Da die Bevölkerung aus Vertriebenen und Armen aus den verschiedensten Teilen Kolumbiens besteht, sind Gemeinschaft und Vertrauen noch weit entfernt. Es kommt oft zu Streiterein und Missverständnissen. Die Stiftung versucht dabei als Vermittler zwischen den Streitparteien zu agieren. Sie schenkt einen Fußball und organisiert ein Turnier mit den Bewohnern des Barrios – die Kinder und Jugendlichen zeigen Interesse und große Beteiligung.

Erste Gerüchte über eine Vertreibung durch die Polizei tauchen auf.

Februar 2008

Ein zweites Fußballturnier unter der Leitung der Stiftung findet statt – unter Beobachtung von 100 ausgerüsteten Polizisten.

Ein erster Versuch einer Räumung des besetzten Gebietes erschüttert die Bewohner. Der Räumungsversuch scheitert jedoch am Widerstand der Einwohner. Daraufhin werden Unterschriften gesammelt und ein Brief mit Forderungskatalog an die Bürgermeisterin verfasst.

Kurz darauf findet ein zweiter Räumungsversuch des Barrios statt – diesmal wird er von der Polizei erfolgreich durchgeführt. Nach der brutalen Räumung bauen sich die Vertriebenen am Rande des Grundstückes notdürftige Behausungen, die aber durch regelmäßige Besuche der Polizei abermals zerstört werden. Die Stiftung kämpft weiterhin für die Vertriebenen und startet Informationskampagnen über die Vertreibung in Österreich, Deutschland und anderen Ländern. Bald wird eine Nothilfeaktion ins Leben gerufen, die die betroffenen Personen mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgen soll. Es stellt sich heraus, dass der Anwalt, der die Besetzer verteidigen sollte, von dem angeblichen Besitzer des Grundstücks gekauft wurde und dadurch die Räumung erst ermöglichte.

Die Vertriebenen demonstrieren vor dem Bürgermeisteramt von Cartagena. Die Bürgermeisterin lädt daraufhin zu einer Versammlung im Kulturzentrum der Stiftung ein und stellt für die Rückreise der Demostranten einen Bus zur Verfügung. Die erste Versammlung mit Vertretern des Bürgermeisteramtes, den Einwohnern des Barrios und der Stiftung findet statt, um eine Lösung des miserablen Zustandes zu finden. Im gleichen sowie im Folgemonat finden weitere Versammlungen statt, die Stiftung stellt eine Sozialarbeiterin zu Verfügung.

Die Katholische Männerbewegung Österrich („Sei So Frei“) startet eine Unterschriftenaktion, die mit einem offiziellen Protestbrief an die Bürgermeisterin geschickt werden soll. In den folgenden Tagen werden von verschiedenen Personen aus Österreich und Deutschland Protestbriefe an die Verantwortlichen des Chaos geschickt. Die kolumbianische Marine und andere Behörden organisieren eine Gesundheitsoffensive für die Betroffenen.

Das Rote Kreuz führt um vier Uhr morgens einen Zensus durch, bei dem alle Bewohner des Barrios erfasst werden wollen. Dieser ist notwendig für weitere soziale Aktivitäten des Bürgermeisteramtes. Daraufhin protestieren die Betroffenen, da viele von ihnen Unterschlupf bei Freunden und Verwandten gefunden haben, aber wegen der Uhrzeit nicht in den Zensus aufgenommen wurden.

März 2008

Bei Gesprächen mit Vertretern des Bürgermeisteramtes und den Vertriebenen stellt sich indirekt heraus, dass es ganz in der Nähe der Invasion ein freies Grundstück gibt, das der Stadt Cartagena gehört. Durch kolumbianisches Recht ist es der Stadt jedoch nicht gestattet, das Land den Leuten ohne Infrastruktur (Wasser-, Strom- Abwasserkanal) zu überlassen. Trotzdem wird dieses neue Grundstück besetzt und ein neuer Vorstand des Barrios gewählt, der nun die Interessen der Bewohner besser und gerechter vertreten soll. Ebenfalls ist ein neuer Anwalt engagiert worden, um die Besetzungen zu legalisieren. Die notdürftigen Hütten werden jedoch bei einer weiteren Polizeiaktion mit Benzin überschüttet und erneut verbrannt.

In einer Versammlung mit dem Vorstand des Barrios und mehreren Vertretern der Stadtverwaltung versichern die Beamten, dass es in den nächsten 5 Monaten zu keiner weiteren Vertreibung kommen wird. Es zwar keine Zusprechung des Grundstückes, jedoch soll innerhalb dieser Zeit eine vernünftige Lösung gefunden werden. Die Bewohner gründen Arbeitsgruppen, die sich jeweils einem bestimmten Thema wie Gesundheit, Bildung, Freizeit etc. annehmen.

April 2008

Das Bürgermeisteramt organisiert einen Weiterbildungskurs, der den Bewohnern und vor allem den Mitgliedern der Arbeitsgruppen in den Bereichen Gruppenarbeit, Zusammenhalt, Unterstützung des Nächsten und Kommunikation Unterricht erteilt, um die Zusammenarbeit produktiv und friedlich zu gestalten.

Die Katholische Männerbewegung (Sei So Frei) besucht das Barrio Madre Herlinda Moises und überbringt Grüsse und moralische Unterstützung. Zur gleichen Zeit macht der ORF Aufnahmen und Interviews mit den Bewohnern. Ein lokaler Fernsehsender berichtet über den Besuch der Katholischen Männerbewegung und des ORFs; Dabei wird auch ein Zugeständnis der Bürgermeistern über falsches Vorgehen im Fall Barrio Madre Herlinda Moises ausgestrahlt. Die Proteste aus Österreich, Deutschland und der ansässigen Bevölkerung haben sich als sehr hilfreich und wirkungsvoll erwiesen.

Die Stiftung führt einen zweiten Zensus zur Erfassung der in den Hütten lebenden Einwohnern des Barrios durch, sowie einer Umfrage zur Klärung allgemeiner Bedürfnisse und Probleme der Menschen. Zu dieser Zeit wohnen ca. 170 Familien in notdürftigen Behausungen im Barrio Madre Herlinda Moises.